Sensitivity Reading mit Sherin Nagib
Anlässlich des diesjährigen Ramadans haben wir die auf Islam, Rassismus und Arabische Kulturen spezialisierte Sensitivity Readerin und Autorin Sherin Nagib interviewt.

Es geht viel um die alltägliche Darstellung von Muslim*innen, gerne auch Muslimas mit Hijab. Hier frage ich mich: Sind Muslimas ohne Hijab kein Sensitivity Thema oder werden sie nur als weniger „kompliziert“ wahrgenommen? Hot topics sind auch Islam und Intimität sowie Islam und Magie.
Islam und Magie – das klingt spannend. Kannst du uns vielleicht ein Beispiel nennen, bei dem ein Sensitivity Reading hilfreich gewesen wäre?
In der Netflix-Serie „First Kill“ merkt man total, dass Diversity Punkte gesammelt werden sollten, ohne zu reflektieren. Da gibt es eine Szene, in der eine Hijabi-Vampirin bei einer Feier steht und Blut aus einem Weinglas nippt. Das ist unlogisch, denn Muslime glauben an Zauberei und übernatürliche Wesen bzw. Jinn, die verschieden Formen annehmen können. Folgen wir dieser Prämisse, wäre eine blutnippende Vampirin keine Hijabi, sondern vielleicht eine Form eines bösen Jinns – wobei das natürlich weit hergeholt wäre. Ich habe keine Ahnung, ob Jinns Blut aus Weingläsern nippen, denn eigentlich ist Muslim*innen der Kontakt mit Jinns verboten und das Praktizieren von Magie sowieso. Um also als gläubiger Muslim in so einer Szene zu existieren, müsste man schon vom Glauben abfallen. Ob man dann noch einen Hijab trägt? Wahrscheinlich nicht. Blut zu trinken bzw. blutiges Fleisch zu essen ist auch ein absolutes No Go und ein striktes Verbot im Islam. Ein absoluter Netflix-Fail meiner Meinung nach, der mich aber eher zum Schmunzeln gebracht hat, weil es so absurd und paradox ist.
Auf welche Punkte können Autor:innen achten, wenn sie gläubige Muslime als Charaktere einführen?
Generell immer das islamische Mondjahr checken. Der Kalender ist nicht fest, sondern wandert – im Vergleich zum westlichen Kalender. Das heißt, man sollte immer checken, ob nicht zufällig gerade Ramadan oder Eid Al Adha oder Eid Al Fitr stattfindet. Wenn ja, dann sollte man das dringend mit in den Plot einarbeiten oder zumindest für seine Charaktere in Betracht ziehen.
Gibt es bestimmte Klischees und Mikroaggressionen, die dir bei der Arbeit mit Texten von nicht-Betroffenen immer wieder begegnen?
Ein Klischee, das beispielsweise bei Protagonist*innen mit südostasiatischen Wurzeln häufig reproduziert wird, ist der Leistungsdruck durch die Eltern. Es ist ein Konflikt, der sicher existiert, er ist allerdings so klischeebehaftet und teilweise eine sehr ungerechte Verallgemeinerung, dass ich meinen Kund*innen davon abrate, wenn sie nicht selbst Own Voice-Autor*in sind.
Was ist, wenn das Buch bereits fertig geschrieben ist und die Storyline sich stark auf diesen Konflikt stützt?
Mein Tipp: Schauen wir nach Innen. Gibt es andere, universale oder auch spezifische Gründe, warum der oder die Protagonist*in Leistungsdruck verspüren kann, ohne dass die Eltern „schuld“ sind?
Gibt es Fälle, in denen nicht einzelne Textbausteine, sondern die gesamte Story unauthentisch ist und umgeschrieben werden müsste?
Sex sells. Es ist allerdings unauthentisch, einen praktizierenden muslimischen Charakter völlig unreflektiert an Casual Sex und Casual Intimacy teilhaben zu lassen. So könnte die Figur auch mit jeder x-beliebigen Figur ausgetauscht werden, die sich selbst keine speziellen Regeln auferlegt, was Körperlichkeit angeht. Ansonsten wird ihr lediglich ein muslimisches Kostüm übergestülpt und es erweckt den Anschein, dass die Autor*in krampfhaft versucht, woke zu wirken. So ein Vorgehen ist unehrlich und grenzt an Ausbeutung. Sollte es sich allerdings um Muslim*innen handeln, die zu bestimmten Strömungen gehören oder sich aus anderen nachvollziehbaren Gründen nicht an diese Regeln halten, würde ich dringend empfehlen, eine*n Sensivitiy Reader*in zu engagieren, die eben auch zu diesen „Strömungen“ gehört, um diese Personen korrekt darzustellen. Ich persönlich kenne mich nur mit sunnitischem Islam aus.
Was ist, wenn die Religion der Figur eine zentrale Rolle für die Geschichte spielt?
Dann muss man sich entscheiden: Ist der Charakter wirklich praktizierend/religiös/gläubig? Wenn ja: Was bringt die Person dazu, gegen ihre Prinzipien zu verstoßen, und in voreheliche Intimität einzuwilligen? Hier braucht es eine authentische Backstory. Ist es etwa „nur“ ein Kultur-Muslim, der es nicht so ernst nimmt mit den Regeln und auch sonst nicht so stark gläubig ist? Allerdings würde ich dann die Religion nicht zu sehr in den Fokus rücken, sondern die Figur als eigenständiges Individuum mit Ecken und Kanten darstellen. Das ist es nämlich: eine Religion ist kein Charakter, sie ist eher eine Backstory.
Im Sensitivity Reading gibt es Spezialist:innen für verschiedenste Themen. Warum gibt es kein Allround-Angebot?
Tatsächlich gibt es Menschen, die Sensibilisierung für eine sehr große Bandbreite an Diskriminierungserfahrungen anbieten. Das sehe ich sehr kritisch. Ist eine authentische Beratung bei so sensiblen Themen möglich, von denen man zum Großteil selbst nie betroffen war? Meiner persönlichen Meinung nach in den meisten Fällen wahrscheinlich nicht. Häufig sind die Menschen, die diese Allround-Angebote anbieten, wirklich sehr engagiert, belegen (Weiter-)Bildungsangebote zu verschiedenen Formen von Diskriminierungen und haben sicher auch eine gewisse Sensibilität erlernt. Aber wie tief geht diese Sensibilität? Wie realitätsnah ist sie? Wie sehr fühlen sie den Schmerz, den die spezifischen Diskriminierungen auslösen?
…können nicht-Betroffene zwischen den Zeilen lesen?
Die meisten Sensitivity Reader*innen, die ich kenne, haben ihre Expertise unter anderem durch erlebte Diskriminierung gewonnen. Das hat sie in einer Art und Weise sensibilisiert, die keine andere „angelernte“ Sensitivity Reading Person jemals bieten kann. Das ist es, was sie den „Angelernten“ voraus haben: Sie können zwischen den Zeilen lesen. Sie fühlen den Schmerz der Mikroaggressionen fast körperlich. Sie wissen, worauf es ankommt, wenn ein Text ehrlich sein soll und nicht nur das Thema Diversity ausschlachten will.
Du empfiehlst also, bei mehreren, parallel auftretenden sensiblen Themen lieber verschiedene Sensitivity Reader:innen zu konsultieren. Die Buchbranche beschäftigt sich aktuell viel mit der Auslotung von Grenzen und Fragen wie „Darf eine schwarze Autorin von einer weißen Person übersetzt werden?“ In diesem Beispiel, das tellvertretend für viele andere Themen steht, sieht sie sich mit dem Problem konfrontiert, dass die Buchbranche aufgrund fehlender Zugangsmöglichkeiten und struktureller Probleme nicht nur auf Seiten der Autor:innen, sondern auch hinter den Kulissen weiß dominiert ist: Es gibt kaum schwarze Übersetzer:innen. Spiegelt sich dieser Mangel an Fachkräften auch im Sensitivity Reading wieder?
Wenn bei mir der Schwerpunkt arabische Kulturen angefragt wird, geht es häufig um die Darstellung der Gebräuche und Sprache. Aktuell ist insbesondere die syrische Kultur sehr häufig Thema. Das Problem: Ich selbst bin zwar arabisch, aber keine Syrerin, zumal Syrien ja auch noch andere Kulturen beinhaltet (z.B. kurdisch, jesidisch, drusisch und und und). Leider gibt es nicht viele Sensitivity Reader*innen, sodass meine Kund*innen in diesem Fall auf mich zurückgreifen müssen als „Nächstbeste“. Um der Aufgabe gerecht zu werden, recherchiere ich viel, frage „echte“ Syrer und gebe mein Bestes. Ich wünsche mir aber, dass in Zukunft mehr Awareness für das Sensitivity Reading aufkommt, damit auch andere Menschen für arabische Kulturen sprechen können und eine noch bessere, noch detailliertere Kritik zu jeder einzelnen „arabischen“ Kultur gegeben werden kann.
Vor allem im Jugendbuch ist ja bereits seit einigen Jahren ein Aufwärtstrend hin zu mehr Diversität zu beobachten – weg von ausschließlich weißen, cis-hetero und atheistischen Figuren ohne körperliche oder geistige Krankheiten oder Behinderungen. Marginalisierte Gruppen sind im Vergleich zu früher deutlich sichtbarer. Wie bewertest du diese Entwicklung und warum braucht es gerade jetzt Sensitivity Reading?
Ich freue mich darüber, traue dem Ganzen ehrlicherweise aber nicht so ganz. Ich glaube meinen Kund*innen, dass sie um der Sache willen diverser schreiben wollen und sehe auch bei einigen Verlagen ein ehrliches Interesse. Bei vielen Verlagen habe ich jedoch das Gefühl, dass sie das Thema Diversity eher als Trend mitnehmen und ihnen das Bewusstsein für die Relevanz und Hintergründe fehlt. Aber auch wenn nicht jeder Mensch in der Buchbranche ein ehrliches Interesse an Diversität hat, freue ich mich trotzdem, dass sie sich immer mehr durchsetzt.
Wie bewertest du denn insgesamt die Präsenz von Sensitivity Reading bei den Verlagen?
Bisher kommen die Autor*innen überwiegend selbst auf mich zu und müssen häufig das Sensitivity Reading selbst bezahlen oder einen Anteil beisteuern. Die meisten Verlage stellen für das SR ein zu kleines Budget zur Verfügung. Vermutlich, weil ihnen nicht bewusst ist, wie tief ein Sensitivity Reading gehen kann. Sie empfinden es eher als eine Art Gutachten und wollen es als solches vergüten.
Sensitivity Reading ist also eher eine lektoratsähnliche Aufgabe?
Ein Sensitivity Reading ist keine Garantie dafür, dass das Buch komplett unproblematisch oder frei von irgendwelchen Klischees oder Diskriminierungen ist. Denn es liegt immer im Ermessen von Autor*in und Verlag, wie meine Kritik angenommen wird und was von meinen Empfehlungen und Vorschlägen umgesetzt wird. Man kann aber davon ausgehen, dass eine Person, die so gewissenhaft ist, ein*e Sensitivity Reader*in zu engagieren, sich die größte Mühe geben wird, das Beste aus ihrem Text rauszuholen.
Vielen Dank für das spannende Interview!

Über Sherin Nagib:
Sherin Nagib ist 1991 als Tochter einer deutschen Mutter und eines ägyptischen Vaters geboren. Als Kleinkind lebte sie zwischen drei Kontinenten. Sie tourte zwischen Kairo, Berlin und San Francisco und lernte so die verschiedenen Kulturen und Sprachen unserer Welt früh kennen und schätzen. Nach ihrem Abitur studierte sie an der Ostsee Hispanistik und Amerikanistik. Dabei legte sie ihren Studienschwerpunkt auf Postkoloniale Studien, sowie Identitäre Krisen und Konflikte von marginalisierten Menschen in rassistischen Umwelten. Nach ihrem Studium widmete sie sich ihrem Autorinnendasein und bloggt daneben seit 2018 aktiv auf Instagram unter anderem für und über das rassismuskritische Lesen. Für Autor*innen und Verlage bietet sie Sensitivity Reading an. Am 11. September 2023 erscheint ihr Romandebüt „Talking to the Moon“ bei Oetinger.
Foto © Anastasia Edel